NADINE SIERRA

NADINE SIERRA – Made for Opera

Als kleines Mädchen in Südflorida wusste ich eines immer ganz genau: Ich sang für mein Leben gern. Vom Aufwachen bis zum Zubettgehen dachte ich den ganzen Tag lang nur ans Singen.

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Foto: © Gregor Hohenberg | Deutsche Grammophon

Ich war erst drei Monate alt, als meine portugiesische Mutter meine besondere Beziehung zur Musik entdeckte. Sie erzählt gerne, wie ich in meinem Kindersitz bei ihr im Auto saß und mein kleiner Fuß im Takt der Musik aus dem Radio mitwippte. Sie war fasziniert von dieser natürlichen Bewegung und davon, wie präzise jeder Impuls zum Tempo des Liedes passte. Dieses spontane Reagieren auf Töne und meine Begeisterung für Musik wurden in den nächsten Jahren noch stärker, und als ich sechs Jahre alt war, erlaubte mir meine Mutter, einmal in der Woche Gesangsunterricht zu nehmen, solange ich jeden Tag mindestens eine Stunde lang üben würde. Ohne Zögern oder Widerworte ließ ich mich darauf ein und genoss danach jeden Moment meiner Unterrichtsstunden.

Meine Mutter wuchs in Lissabon auf, sie war ein Einzelkind. Ihr Vater ging arbeiten und ihre Mutter war Hausfrau: meine Avó Susette (avó ist portugiesisch für »Großmutter«). Sie war eine wunderschöne Frau und kam aus einer großen Familie, in der man Musik schätzte und liebte, auch wenn mein Urgroßvater wenig vom Künstlerleben hielt. Er liebte die Oper und ging regelmäßig ins Theater, aber seine Tochter sollte auf keinen Fall als Sängerin leben. Das war hart für meine Avó, denn sie träumte davon, eines Tages Opernsängerin zu werden. Man erzählt sich, ihre Stimme habe so schön und verführerisch geklungen, dass Nachbarn und Verehrer regelmäßig vor dem Haus stehenblieben, um ihr bei ihren Gesangsübungen zuzuhören. Aus ihrem Traum wurde trotzdem nichts, denn ihr Vater erlaubte ihr nicht, an etwas anderes zu denken als an ein Leben als ehrbare Hausfrau – ein Schicksal, das die meisten jungen Frauen ihrer Zeit erwartete, ohne dass sie eine Wahl gehabt hätten.

Meine Mutter kannte diese Geschichten nur zu gut, und darum setzte sie alles daran, mir einen anderen Start ins Leben zu geben. Sie zeigte mir alle Möglichkeiten auf und ermutigte mich, hart für meine Träume zu arbeiten – auch als Mädchen. Anders als meine Avó konnte ich zwischen unzähligen Optionen für meinen Lebensweg wählen, und als ich 10 Jahre alt war, machte mich meine Mutter mit der Welt der Oper bekannt. Sie hatte in unserer Bücherei eine VHS-Kassette ausgeliehen, die wir am Ende nie zurückbrachten, weil ich so begeistert davon war und sie immer und immer wieder anschauen wollte. Die Musik von Puccinis La Bohème überwältigte mich wie nichts zuvor, und die Inszenierung von Franco Zeffirelli aus der New Yorker Metropolitan Opera hatte großen Anteil daran, dass ich von nun an Opernsängerin werden wollte. Die Sopranistinnen in dieser Produktion, Teresa Stratas und Renata Scotto, wurden für mich zu wichtigen Vorbildern, genau wie so viele andere beeindruckende Frauen aus der Welt der Oper. Mit noch nicht einmal 20 Jahren hatte ich das große Glück, dass Marilyn Horne mich unter ihre Fittiche nahm und meine Mentorin wurde, und dank ihrer Unterstützung und guten Ratschläge habe ich unglaublich viel gelernt. Es war ein Privileg, von diesen großartigen Frauen lernen zu dürfen, und durch sie habe ich begriffen, was man alles braucht für diesen Weg: Hingabe, Leidensfähigkeit, Opferbereitschaft, Durchhaltevermögen, Geduld und Leidenschaft für die Sache. Nur so kann man es schaffen und »wie gemacht für die Oper« sein.

Während meiner Jugend- und Studienzeit bekam ich von meiner Familie und meinen Lehrer*innen jede Unterstützung, die ich brauchte, um in diese Fußstapfen zu treten und einem Weg zu folgen, von dem meine Avó nur hatte träumen können. Sie starb, als ich 19 Jahre alt war, und bis dahin hatte sie voller Freude und Stolz meine ersten Schritte auf diesem Weg begleitet. Ich weiß noch, wie sie mir und meinen Schwestern manchmal etwas vorsang, und ihre Stimme ist Teil meiner frühesten Erinnerungen: Eine Stimme, die nie frei und laut für andere singen durfte, und deren Geschenk an mich weitergegeben wurde. Viele Jahre sah ich mich als demütige Dienerin dieser Gabe und stellte mein Leben ganz in ihren Dienst. Ich hegte und pflegte sie, denn schließlich wollte ich sagen können: Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um »wie gemacht« für sie zu sein.

Sängerinnen spielen in der Oper oft junge Mädchen, die nicht selbst über ihr Schicksal entscheiden dürfen – was regelmäßig in einer Tragödie endet und ihnen wenig Freiheiten lässt. Figuren wie Violetta, Lucia und Juliette lehren uns etwas sehr Wichtiges über die Schönheit des Lebens, nämlich wie zerbrechlich sie ist, und dass ihr Lebensweg ganz anders hätte verlaufen können, wäre man nur ein wenig behutsamer, fairer und aufmerksamer mit ihnen umgegangen. Ich denke, Verdi, Donizetti und Gounod haben uns diese wundervollen Frauen geschenkt, damit wir sie bewundern können, und sie haben ihre Seelen auf eine Weise in Musik gefasst, die ihren Stimmen neue Kraft und Nachdruck verleiht – auch wenn sie in ihrer jeweiligen Geschichte nur wenig bewirken konnten.

Mein Weg als Musikerin – und als Frau – begann damit, dass ich nach etwas griff, das für jemand anderen unerreichbar gewesen war, und es Wirklichkeit werden ließ. Dieser Weg erlaubt es mir, gesehen und gehört zu werden und in meiner künstlerischen Arbeit noch über das hinaus zu streben, was ich als Frau unserer Tage bereits erreicht habe – als Ermutigung für alle jungen Frauen, die nach den Sternen greifen. Sich ganz und gar einer Sache zu verschreiben, ist erst der Anfang, und für manchen mag es unmöglich scheinen. Aber ich hoffe, dass ich mit meiner Geschichte und der meiner Familie all jenen helfen kann, die nach Inspiration suchen – weil sie ihren Weg gehen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen möchten, um zu erkennen, dass sie »wie gemacht« sind für eine Sache.

 

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